Wenn der Kreispräsident zum 60-jährigen Bestehen des Sozialverbandes
eingeladen wird und die Festrede halten soll, dann gebietet es schon mal die
Höflichkeit, dass er sagt, sich zu freuen, hier zu sein und dass er Grüße
überbringt.
Das Letztere will ich gern tun: Und zwar auch im Namen von Landrat Dr.
Grimme und des ganzen Kreistages überbringe ich die besten Grüße und
Glückwünsche des Kreises Pinneberg.
Das Erste, lieber Wilhelm Witt, ist aber etwas diffiziler. Ich hatte Dir
schon sehr früh zugesagt und konnte natürlich nicht wissen, dass ich später
noch eine tolle Einladung nach Helgoland bekommen würde.
Dennoch kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass ich mich trotzdem freue,
heute hier zu sein.
Denn erstens ist es wirklich eine große Ehre für mich, die Festrede zu
halten, und zweitens versetzt genau das mich in die Lage, Ihnen etwas vortragen
zu können, worüber ich in ähnlicher Form schon öfter geredet habe und was ich
schon lange einmal beim Sozialverband loswerden wollte.
Also, mach Dir keinen Kopf, Willi, Helgoland wird so schnell nicht
verschwinden. Ich glaube, selbst die Lange Anna wird´s noch eine Weile machen,
und was ist das alles schon im Vergleich zu diesem großartigen Jubiläum.
Ich bin Dir auch ausgesprochen dankbar, dass Du mir kein Thema
vorgegeben hast und mich auch nicht gebeten hast, über ein bestimmtes Thema zu
sprechen.
Es macht auch wenig Sinn, wenn ich – wie bei Festreden oft praktiziert –
Ihnen etwas über Ihren Verband vortrage, was Sie sicher alle viel besser
wüssten als ich.
Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wer mich kennt, weiß, dass
ich über eine Randgruppe unserer Gesellschaft sprechen möchte: Über
benachteiligte Kinder.
Die allermeisten Kinder in Deutschland wachsen behütet auf. Sie können
sich glücklich schätzen, engagierte Eltern zu haben, die alles für ihre Kinder
geben und viele haben auch noch Großeltern, die helfen, wo sie können.
Für eine immer größer werdende Zahl von Kindern gilt das aber nicht
mehr.
Sie haben Eltern, die mit ihnen immer weniger sprechen, die länger vor
dem Fernseher sitzen, die weniger mit ihnen unternehmen, weniger Wert auf
gesunde Ernährung legen, die schlicht mit ihrer Pflicht zur Fürsorge
überfordert sind.
Ein Land, in dem jedes Kind behütet aufwachsen kann, kann es nur in
einer Gesellschaft geben, in der sich alle angesprochen fühlen, auch dem
anderen Beachtung zu schenken.
Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht mir aus der Seele, wenn sie eine
Kultur des Hinschauens für unsere Gesellschaft fordert.
Im letzten
Jahrhundert, das ein Jahrhundert des Kindes werden sollte, wurde viel
für Kinder getan.
Man hat sich nicht nur Gedanken über das Wesen des Kindes und seine
Situation in der Gesellschaft gemacht. Unser Verständnis für das Kind und die ihm
eigenen Probleme hat wahrscheinlich auch zugenommen.
Die Methoden der Erziehung und Betreuung konnten verbessert werden und
zahlreiche Maßnahmen zum Schutz mangelhaft versorgter Kinder wurden getroffen.
Aber die Bemühungen, ein wirklich kinderfreundliches
Jahrhundert zu gestalten, haben ihr Ziel nicht erreicht. Der Durchbruch zu
einem neuen, effektiveren, humaneren VerhäItnis des Erwachsenen zum Kinde ist
weitgehend unbewältigt geblieben.
Möglicherweise hat der Eine oder der Andere eine
unterschiedliche Sichtweise.
Aber haben wir wirklich aufgehört, am Kinde vorbeizuleben?
Suchen wir keine Ausflüchte vor der Verpflichtung
ihm gegenüber?
Streben wir nicht danach, uns seine Betreuung so
bequem wie möglich zu machen?
Sind wir nicht von der Erfüllung der Verantwortung,
die wir für das Kind tragen, nach wie vor meilenweit entfernt?
Viele Erscheinungen unserer Zeit, die wir
für Fortschritt, für Errungenschaften der Technik und Errungenschaften des
Geistes halten, haben die Welt, in der es aufwachsen muss, dem Kind entfremdet.
Ist es
nicht so, dass die Bevölkerungs-explosion, die Industrialisierung, die
statt-findenden weltweiten sozialen Umwälzungen, das mitunter falsche Gewicht,
das wir der „Rationalisierung“ unseres Denkens beigemessen haben –
dass all das uns verunsichert und uns auch dem Kind gegenüber in fast unlösbare
Schwierigkeiten gebracht hat?
Millionen grob vernachlässigter und im Stich gelassener
Kinder in aller Welt sind das Resultat der Unfähigkeit der Gesellschaft, in
ausreichendem Maße für das körperliche, geistige und seelische Gedeihen ihrer
Kinder zu sorgen.
Sowohl in den reichen als auch in den armen, in
entwickelten und unterentwickelten Ländern wird viel zu oft erschreckend
fahrlässig und verantwortungslos mit dem Kind umgegangen, müssen Kinder leiden,
hungern und sterben, weil sich niemand um sie kümmert, werden Kindern aus
Leichtsinn, Mangel an Einsicht und Mangel an Fürsorge ein Leben lang unheilbare
Schäden an Leib und Seele zugefügt.
Als unmündiger, schwächster Partner einer jeden
Gesellschaft kann das Kind nicht verhindern, dass es oft und immer wieder um
die ihm zustehende lebensnotwendige Fürsorge geprellt wird.
Es ist wehrlos gegen diejenigen Erwachsenen, die
ihre Konflikte auf seinem Rücken austragen, ohne Teilnahme an seiner
Entwicklung leben und sich, ohne Rücksicht auf das Kind, ihre eigenen Wünsche
erfüllen.
Seien wir doch einmal ehrlich, ertappen wir uns da
nicht manchmal selber in der Rolle, die wir doch nur allzu gern weit von uns
weisen möchten?
Es liegt an uns – den Erwachsenen – einen Prozess
des Umlernens in die Wege zu leiten.
Wir haben lernen müssen, dass der rück-sichtslose
Umgang mit unserer Umwelt die Existenz der Menschheit gefährdet.
Ebenso müssen wir lernen, dass die Gesellschaft, in
der wir leben, eine für ihren Fortbestand wichtige Funktion dadurch zu
erfüllen hat, dass sie sich in verstärktem Maße dem Kinde zuwendet und jede
erdenkliche Vorsorge trifft, um einen möglichst ungestörten Ablauf seiner Entwicklung
zu gewährleisten.
Selbstverständlich kann unsere Welt nicht nur eine Kinderwelt
sein. Doch wir sollten uns dessen besinnen, dass die Gesellschaft ebenso
wenig eine Erwachsenengesellschaft sein darf, denn sie ist nicht nur eine
Produktions- und Konsumgemeinschaft.
Sie hat nicht nur die für Erwachsene wichtigen
Aufgaben zu erfüllen.
Sie ist darüber hinaus für jedes einzelne unserer
Kinder Rückhalt und Lebenshilfe, der Schutz- und Lernraum, den wir dem Kind,
das gedeihen soll, nicht entziehen und zerstören dürfen.
Die Gesellschaft braucht das Kind, denn
sie wird über das Kind erneuert und der sich stets verändernden Wirklichkeit
angepasst.
Und bei weitem nicht zuletzt hängt die
Qualität unseres Lebens von der Qualität der Beiträge ab, die jeder
einzelne zur Betreuung, Erziehung und Wohlfahrt seiner Kinder leistet.
Meine Damen und Herren, es war mir ein Bedürfnis, Ihnen diese Gedanken
mitzuteilen.
Vielleicht verstehen Sie jetzt besser meine Beweggründe, warum ich vor
drei Jahren den Verein „Gemeinsam“ gegründet habe, der sich für benachteiligte
Kinder im Kreis Pinneberg einsetzt.
Die Hilfs- und Spendenbereitschaft in
Deutschland zum Beispiel für den Kossovo, Afghanistan oder auch anlässlich der
Tsunami-Katastrophe war immer wieder beeindruckend,
aber wir sollten nicht vergessen, dass es
auch bei uns, vor unserer Haustür Menschen gibt, die der Hilfe bedürfen
– insbesondere Kinder.
Mehr als 800.000 Familien in Deutschland haben ein behindertes oder
chronisch krankes Kind.
Durch den enorm hohen Pflegeaufwand erreichen die Eltern häufig die
Belastungs-grenze, finanziell, oft aber auch, was Zuwendung und menschliche
Wärme betrifft.
Ich denke, vor diesem Hintergrund sind wir alle
aufgerufen, zu fordern, dass alle Kinder unter normalen Bedingungen aufwachsen
und bei voller Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in ihre natürliche Lebens-
und Lernumwelt einbezogen werden.
Jeder Mensch muss die Chance haben, aus
seinem Leben etwas zu machen und sich normal entwickeln zu können.
Das Leben z. B. eines behinderten Kindes
darf einfach nicht vom Zufall abhängig sein.
Aber auch die Kluft zwischen arm und reich wächst immer weiter an.
Es erfordert konkrete Maßnahmen, damit unsere Gesellschaft nicht immer
undurchlässiger wird. Wer arm zur Welt kommt, hat statistisch gesehen schon
verloren.
Das gilt für Kinder in der ganzen Welt, aber arm sind immer mehr Kinder
auch in Deutschland. Fast 15 % aller privaten Haushalte sind inzwischen von
Armut betroffen und über drei Millionen Haushalte hoffnungslos überschuldet.
Darunter leiden ganz besonders
die Kinder!
Mehr als 2 ½ Millionen, davon mehr als 80.000 in Schleswig-Holstein,
jedes sechste Kind in Deutschland,
befindet sich in einem Teufelskreis:
Die Folgen von Armut sind mangelhafte Ernährung, fehlende Bildungs- und
Aufstiegschancen und letztlich soziale Ausgrenzung.
Wer wenig verdient, kann es sich nicht leisten, seine Kinder im
Sportverein anzumelden.
Wer keine Großeltern, die als zuverlässige Kinderbetreuung einspringen
können und keinen Ganztagskindergarten in der Nähe hat, der hat größere Schwierigkeiten,
den Alltag zu organisieren.
Und wer von solchen Problemen belastet, mit dem Familienmanagement
überfordert ist, kann seinen Kindern nicht die Zuwendung geben, die sie
brauchen.
Ich weiß Sie da alle ganz dicht bei mir. Aber das ist der Grund, warum
wir vom Verein Gemeinsam, für den ich heute hier auch stehe, uns für
benachteiligte Kinder stark machen.
Im Kreistag damals vor drei
Jahren wegen der Vereinsgründung noch heftig angefeindet – es hieß, der Vorsitz
in solch einem Verein wäre nicht vereinbar mit der Würde des Amtes des
Kreispräsidenten,
trotz aller Widerstände waren
meine Mitstreiter und ich uns nicht zu
schade, zig-km-lange Spendenmärsche zu machen –
im letzten Jahr
sind wir z.B. bei strömendem Regen 30 km
von Quickborn-Heide kreuz und quer durch den Kreis bis Halstenbek –
gelaufen.
Sie glauben gar
nicht, was für ein Gefühl es ist, völlig fertig, klatschnass, aber am Ziel zu
sein, wissend, dass man über 5.000 Euro unterwegs gesammelt hat, mit denen man
so viel Gutes tun kann.
Am 21.
September dieses Jahres sind wir wieder unterwegs. – – –
Und wir haben öffentlich Schuhe
geputzt, ich habe Fahrräder und Möbel versteigert und in Firmen gegen Honorar
Vorträge gehalten und auch jede andere Gelegenheit
genutzt, Gelder für Kinder zu sammeln, die am Rande unserer Gesellschaft
stehen.
Insgesamt haben wir inzwischen fast 25.000 Euro zusammen bekommen und mit
dem Spendenmarsch im September wollen wir die 30-Tausender-Marke knacken.
Dieses Geld kann nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein, aber damit
haben wir
z.B.
einem Mädchen geholfen, das mit nur einem Bein und ohne Arme zur Welt kam
. . .
Und einem Jungen, der unter extremer Lichtempfindlichkeit leidet . . .
Wir sorgen für Therapien, Kleidung, nötige Möbelstücke, Schulsachen, wo
es nötig ist, und wir sorgen dafür, dass Kinder, deren Eltern es sich nicht
leisten können, täglich eine warme Mahlzeit bekommen.
Mit jedem Kind,
dem wir unsere Zuwendung schenken, setzen wir Hoffnungen in anderen frei – das
gilt für die materielle Hilfe genau so wie für die Zuwendung im täglichen
Leben.
Meine Damen und
Herren,
eingangs sprach
ich von Höflichkeit. Diese gebietet es, bei Ihrem Jubiläum nicht zuviel über
den eigenen Verein zu sprechen, was ich sonst – im Interesse benachteiligte
Kinder – oft und gerne tue.
Aber sollten
Sie Kenntnis von einem Kind oder Jugendlichen haben, dessen Not oder Leiden mit
Geld ein klein wenig zu lindern ist, dann sollten Sie sich nicht scheuen, sich
direkt an mich zu wenden.
Kinder brauchen
Zuwendung, aber Erwachsene auch!
Jeder kann dem
anderen etwas Zuwendung geben. Das kostet nicht viel, macht aber das Leben im
Miteinander einfacher.
Mehr als 95.000 Mitglieder hat der Sozialverband Deutschland mittlerweile
in Schleswig-Holstein.
Und 4.000 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmern sich in
15 Kreisverbänden und rund 400 Ortsverbänden um die Mitglieder im unermüdlichen
Einsatz für eine gerechte und solidarische Gesellschaft.
Gut tun – tut gut! Das ist der Leitsatz des Sozialverbands Deutschland,
und den füllen Sie mit Leben.
Sie kümmern sich um die Nöte der Menschen und stehen ihnen vor Ort mit
Rat und Tat zur Seite.
Sie bemühen sich, die Ursachen von Benachteiligung und Ungleichheit zu
bekämpfen, Sie machen auf soziale Missstände aufmerksam und sind
Ansprech-partner und Anwalt für alle Sozialversicherten, Rentner, Behinderte
und chronisch Kranke, Pflegebedürftige und Sozialhilfeempfänger.
Natürlich können Sie nicht jede soziale Ungerechtigkeit beseitigen.
Aber Albert Schweitzer hat einmal gesagt: Das Wenige, das du tun kannst,
ist viel.
Sie leisten einen unglaublich wichtigen Beitrag für den Zusammenhalt in
unserer Gesellschaft – einen Beitrag, der in der Gesellschaft immer noch viel
zu wenig Beachtung findet.
Unsere Gesellschaft braucht Sie –
die engagierte Arbeit des Sozialverbandes, denn durch Ihre Arbeit geben Sie den
Menschen in sozialen Fragen Orientierung, sich in den Wirrnissen des
Sozialrechts zurecht zu finden und die Menschen erfahren dabei ein Stück
gelebte Solidarität – Solidarität, die unsere Gesellschaft gerade in der
heutigen Zeit nötiger denn je braucht.
Sie alle leisten einen Dienst am
Menschen, der oft weit über das zu erwartende Maß hinausgeht. Sie alle geben
uns ein Stück mehr Lebensqualität und Sicherheit!
Allen, die sich dafür engagieren,
möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich Dank sagen, Es ist ein gutes und
beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass man sich im Notfall auf Sie verlassen
kann.
Gestatten Sie mir zum Schluss noch ein Zitat:
Voltaire hat einmal behauptet: „Die Gelegenheit, Unheil anzurichten,
bietet sich hundertmal am Tag – Gutes zu tun, nur einmal im Jahr.
Lieber Wilhelm Witt, der Sozialverband Deutschland, Kreisverband
Pinneberg beweist nun schon seit 60 Jahren das Gegenteil.
Ich danke allen für ihr großes
Engagement, beglückwünsche Sie zum 60-jährigen Bestehen und wünsche nun einen guten Verlauf Ihrer
Jubiläumsfeierlichkeiten.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld und dass Sie mir zugehört haben.